Private und Firmen würden jedes Jahr Hunderte von Millionen Franken zu viel Netzgebühren bezahlen, kritisieren der Preisüberwacher und die Wirtschaft. Jetzt will der Bundesrat die hohen Gewinne aus dem Monopolgeschäft senken. Der Widerstand ist gross.
Von Georg Humbel

Das Herz des Schweizer Stromnetzes schlägt hinter Panzerglas. Der Zutritt zum Kommandoraum von Swissgrid in Aarau ist für Besucher streng verboten. Hinter einer dicken Scheibe sitzen Operateure vor einer gewaltigen Bildschirmwand: Im 24-Stunden-Schichtbetrieb steuern sie per Mausklick Tausende Megawatt und sichern die Stabilität des Schweizer Stromnetzes.
12 000 Masten, 6700 Kilometer Leitungen: So umfangreich ist allein das Höchstspannungsnetz von Swissgrid. Die Stromkonzerne besitzen noch einmal Tausende Kilometer Kabel. Hunderte lokale Netzbetreiber bringen die Energie bis zu den Steckdosen der Kunden – alle Ebenen zusammen bilden eine der wichtigsten und grössten Infrastrukturanlagen des Landes.
Für jeden Kilometer Kabel und jede transportierte Kilowattstunde können die Netzbetreiber Gebühren eintreiben. Das ist nötig – der Betrieb der Infrastruktur ist teuer. Doch die grosse Frage ist, wie viel sie damit verdienen dürfen. Gemäss Gesetz steht ihnen ein «angemessener Gewinn» zu. Was aber ist angemessen bei diesem Monopolgeschäft? Und ab wann verdienen sich die Strombarone mit ihren Leitungen eine goldene Nase?
Weil das Stromnetz ein Monopol ist, muss das die Politik festlegen. Der Bundesrat legt via Verordnung fest, wie der erlaubte Gewinn berechnet wird. Mit einer hochkomplexen Formel wird bestimmt, zu welchem Satz das ins Netz investierte Kapital verzinst werden darf. Gemäss aktueller Berechnung sind das dieses Jahr 4,13 Prozent. Das tönt nicht nach besonders viel. Doch im ganzen Netz stecken rund 22 Milliarden Franken Kapital. Gemäss heutiger Regelung heisst das, dass die Betreiber über 900 Millionen Franken Zins abschöpfen dürfen – und das jedes Jahr.
«Das grenzt aus meiner Sicht schon an Gier und ist befremdlich», sagt Roger Ambort. Er ist Geschäftsführer der Gruppe Grosser Stromkunden. Hinter dieser Organisation stehen Wirtschaftsgrössen wie Migros, Coop oder Swiss Steel. Für Ambort ist klar, dass die heutigen Gewinne überzogen sind. «Es ist ein völlig risikoloses Monopolgeschäft mit einem staatlich garantierten Gewinn.» Er vergleicht die heute eingestrichenen Gewinne mit den Renditen von Staatsanleihen oder anderen vergleichbaren Wertpapieren. «Die Strombarone können beim Stromnetz deutlich höhere Gewinne einfahren.» Die Branche verdiene schlicht zu gut und die heutige Formel produziere systematisch zu hohe Gewinne. Gewinne, die nicht zwingend wieder ins Netz reinvestiert werden müssten, wie er betont.
Das sieht mittlerweile auch die Landesregierung so. Am 14. Juli hat der Bundesrat eine neue Formel in die Vernehmlassung geschickt. Sie soll ab 2026 greifen und die Stromkunden entlasten. Gemäss neuer Formel würden die Gewinne der Netzbetreiber um 127 Millionen Franken sinken. Doch das Projekt ist hoch umstritten und der Widerstand massiv.
Michael Frank ist Direktor der Verbandes der Elektrizitätsunternehmen (VSE). Er sagt, die Branche werde die Änderung vehement bekämpfen. «Das heutige System funktioniert und hat sich bewährt.» Die derzeit angewandte Formel sei wissenschaftlich begründet und werde seit rund zehn Jahren verwendet. «Es ist brandgefährlich, kurzfristige politische Änderungen durchzuboxen, die langfristige Investitionen in die kritische Infrastruktur betreffen.» Das Stromnetz sei eine der wichtigsten Infrastrukturen des Landes. «Wir haben in der Schweiz eines der stabilsten Stromnetze der Welt, und Versorgungssicherheit kostet etwas», sagt der Direktor des Verbandes. Er bezweifle, dass die Bevölkerung oder die Wirtschaft hier bereit wäre, Abstriche zu machen.
Frank betont, dass in den kommenden Jahren ein riesiger Investitionsbedarf bestehe. Auch wegen der Energiewende: «Wir kommen um einen massiven Um- und Ausbau nicht herum.» Dafür brauche es grosse Mengen Kapital und die Branche und die Investoren seien auf langfristig stabile Rahmenbedingungen angewiesen. Auch Swissgrid wehrt sich mit den gleichen Argumenten gegen die Senkung: Das schmälere die Investitionssicherheit und sende ein negatives Signal an bestehende und potenzielle Geldgeber, so die Netzgesellschaft.
Ganz anders sieht das der eidgenössische Preisüberwacher. «Wir vergolden das Netz der Strombranche», kritisiert Stefan Meierhans. Der heute geltende Zinssatz sei schlicht «nicht nachvollziehbar». Die vom Bundesrat jetzt angestrebte Senkung geht ihm zu wenig weit. Gemäss seinen Berechnungen haben die Stromkunden während der Tiefzinsphase knapp 400 Millionen pro Jahr zu viel bezahlt. «Das ist einfach wahnsinnig viel Geld, das den Stromkunden seit Jahren aus der Tasche gezogen wird», sagt er. Die überhöhten Gewinne seien volkswirtschaftlich schädlich. Monsieur Prix schlägt eine ganz neue Methode vor, die sich ebenfalls an den Renditen von Staatsanleihen orientiert. Mit seiner Formel könnte die Strombranche auf dem Netz nur noch einen Gewinn von 2,7 Prozent verbuchen.
Dass die Branche mit der alten Formel sehr gut gelebt hat, zeigt sich auch daran, wie interessant das Stromnetz für grosse institutionelle Investoren ist. Das beweist ein spektakulärer Deal aus dem Jahre 2023. Die Pensionskasse des Kantons Zürich (BVK) hat letztes Jahr 15 Prozent von Swissgrid erworben. Wie viel die Kasse dafür bezahlen musste, ist Geheimsache. Doch die grösste Pensionskasse des Landes würde kaum dermassen viel Geld investieren, wenn es nicht ein sehr sicheres und gutes Geschäft wäre. In der Pressemitteilung lobt die BVK die «Performance» dieses Investments.
«Das Stromnetz ist das neue Eldorado für die Pensionskassen», sagt Roger Ambort. Er sieht das kritisch: «Ist es wirklich Aufgabe der Stromkonsumenten, den Zürcher Kantonsangestellten eine gute Pension zu sichern?» Die Gebühren für das Stromnetz würden für den Werkplatz Schweiz zunehmend zum Problem. Wie hoch die Zahlen vor allem für grosse Stromverbraucher mittlerweile sind, zeigt das Beispiel Stahl Gerlafingen. Dem Werk droht die Schliessung, unter anderem weil die Netzgebühren höher als in Italien und Frankreich sind. Wie Stahl Gerlafingen für die «NZZ am Sonntag» berechnet hat, hat das Werk allein 2024 Netzgebühren von über 17 Millionen Franken bezahlt. Ein massiver Kostenblock.
Der Druck auf den Bundesrat ist gross. Die Wirtschaft – namentlich auch die mächtige Economiesuisse – drängt auf eine Senkung und fordert eine Entlastung von den hohen Gebühren. Auf der anderen Seite lobbyieren die Strombarone, die Pensionskassen und die Kantone mit aller Kraft dagegen. Hinter den Kulissen weibeln beide Seiten intensiv. Der Bundesrat muss bald einen millionenschweren Entscheid fällen.
Ist Stahl Gerlafingen doch systemrelevant?
Der italienische Stahlpatron Antonio Beltrame ist enttäuscht von der Schweizer Politik. Der Besitzer des Stahlwerks Gerlafingen hat mehrmals auf höchster Ebene angeklopft und für die Rettung geweibelt. Vergeblich: «Bundesrat Parmelin hat uns gesagt, wir seien nicht systemrelevant», so Beltrame vor einer Woche gegenüber dieser Zeitung.
Erstaunlich ist, dass ein Amt aus Parmelins Departement dem Stahlwerk das Gegenteil geschrieben hat. Der «NZZ am Sonntag» liegt ein Brief des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) vom 7. April 2020 vor. Darin schreiben die Beamten: «Die wirtschaftliche Landesversorgung bestätigt, dass es sich bei Ihrem Unternehmen um einen zur Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen systemrelevanten Betrieb handelt.» Das Werk erbringe Leistungen, die für die Versorgung des Landes «unerlässlich» seien.
Das Departement Parmelin relativiert. Das Schreiben des BWL stamme aus der Anfangszeit der Pandemie. Das Amt habe damals das Prädikat «systemrelevant» sehr grosszügig verteilt, so ein Sprecher. Sogar Bäckereien und viele andere Betriebe hätten den Brief erhalten. Es handle sich dabei aber nicht um eine vertieft geprüfte volkswirtschaftliche Relevanz. Der Bundesrat habe diesen Frühling eine Aussprache geführt. Dabei sei er zum Schluss gekommen, dass die Metallindustrie und einzelne Stahlwerke volkswirtschaftlich nicht systemrelevant seien. Der Ausfall habe – anders als bei einer grossen Bank – keine gravierenden Folgen wie eine Rezession.
Diese Antwort empört die Solothurner SP-Ständerätin Franziska Roth. «Offenbar traut Bundesrat Parmelin den Einschätzungen des eigenen Amtes nicht.» Die Versorgung mit Stahl sei systemrelevant. «Ich bin stinksauer, dass einen offiziellen Brief gibt, der das bestätigt und den Bundesrat Parmelin einfach ignoriert.» Wenn das Werk während der Pandemie so wichtig gewesen sei, dann könne das auch in Zukunft so sein: «Wer garantiert, dass wir in der nächsten grossen Krise problemlos Stahl importieren können?»Kritik an hohen Gebühren für das Stromnetz: Die Strombarone kassieren amtlich bewilligte Millionengewinne